29. April 2021

Von Anhängern in Wirtschaft, Forschung und Politik wird die Industry 4.0 gerne als vierte industrielle Revolution bezeichnet. In Anlehnung an die bisherigen industriellen Meilensteine beschreibt der Begriff die Digitalisierung von Produktionsanlagen unter Einbindung moderner IT-Systeme und dem Einsatz von KI-Anwendungen. Industry 4.0 soll Unternehmen befähigen, den fortschreitenden Herausforderungen wie Mass Customization oder Effizienzsteigerungen Rechnung zu tragen. Die Digitalisierung der Produktion basiert dabei auf den Säulen Vernetzung, Informationstransparenz, Technische Assistenz und Dezentrale Entscheidungen.

Aktuell beobachten wir, dass in den meisten Unternehmen bereits eine Vielzahl von Industrie 4.0-Anwendungen im Einsatz ist. Häufig sind diese jedoch danach ausgewählt, mit einer bestimmten Technologie Erfahrung zu sammeln oder in bestimmten, sehr eng begrenzten, Situationen Mehrwerte zu schaffen. Diese Art von Anwendungen ist häufig auch deshalb verbreitet, weil mit den Argumenten „Neue Technologie explorieren“ und „konkretes, gut messbares Problem beheben“ oftmals gut Investitionsmittel freigegeben werden können.

Die Enttäuschung setzt jedoch dann ein, wenn die errechneten ROIs nicht eintreffen, weil die Anwendungen nicht in der Breite ausgerollt werden. Nach der Pilotierung wird oftmals festgestellt, dass ein Ausrollen der Lösung neue Infrastruktur, etwa ein Upgrade der IT-Architektur, Einbau einer stabilen IoT-Plattformlösung oder deutlich schnellere physische Datenübertragung bedingen würde. Der höhere Aufwand rechtfertigt dann häufig nicht mehr den eng definierten Nutzen der Anwendung, die isoliert auf ein einzelnes Problem wie die Verfügbarkeit einer bestimmten Maschine ausgelegt war. Die Piloten wurden oft schon an den Stellen wo der höchste Effekt zu erwarten war eingesetzt, um eine klassische ROI-Berechnung zu ermöglichen – das passt dann oft nicht mehr in der Breite.

Piloten sind und bleiben das wichtigste Mittel, um eine neue Anwendung von Industrie 4.0 einzuführen. Sie sind fast unverzichtbar, um Kompetenzen aufzubauen, und Nutzen zu validieren. Allerdings ist es nicht sinnvoll, „Piloten auf Piloten“ zu stapeln, um immer wieder mit einem kleinen Nutzen einen kleinen Schritt weiter rechtfertigen zu können. Hierbei werden Kompromisse eingegangen, die heute noch nicht wehtun, aber in den nächsten Jahren die Einführung neuer ganzheitlicher Ansätze erschweren werden. Insbesondere die Nutzung selbst entwickelter oder proprietärer Schnittstellen kann oft zum Problem werden, da diese mit neuen Anforderungen mitwachsen müssen. Dies erzeugt wiederum Abhängigkeiten von einzelnen Herstellern oder bedeutet einen hohen eigenen Pflegeaufwand.

Aus unserer Erfahrung ist nach der Pilotphase ein strategischer Ansatz sinnvoll, der definiert, welche Fähigkeiten das Unternehmen als Ganzes derzeit benötigt, wie die Anforderungen sich vor dem Hintergrund von Markttrends verschieben werden, und welche Infrastrukturentscheidungen heute getroffen werden müssen, um in Zukunft „sunk costs“ und hohe Stabilisierungsaufwände zu vermeiden. Industrie 4.0 schafft dort den meisten Mehrwert, wo Informationen aus der gesamten Wertschöpfungskette integrierbar sind – ohne Umwege über Excel oder ähnlichem. Erst dann macht es Sinn, über heute aktuelle Anwendungen wie Machine Learning zu sprechen. Während es auch hier gut und sinnvoll ist, bereits jetzt mit einigen wenigen wohl definierten Piloten Erfahrung zu sammeln, werden auch diese Ansätze erst ihren vollständigen Wert zeigen, wenn die dafür notwendige Infrastruktur durchgängig aufgebaut wurde.

Es gibt andererseits bereits heute viele sehr positive Beispiele für eine strategische Einführung von Industrie 4.0. Erfahrungen hieraus sind, dass die strategische Einführung nicht mit der Fokussierung auf einige wenige Anbieter verwechselt werden darf – die Dynamik von Industrie 4.0 lebt von der Interoperabilität kleiner Lösungen wie Industrial Apps über standardisierte Schnittstellen. Weiterhin darf nicht der schwere Teil ausgeklammert werden – bereits einzelne Medienbrüche, bei denen ein Prozess durch einen manuellen Schritt nicht mehr nachvollziehbar ist, oder etwa eine Nachverfolgung von Teilen an einzelnen schwierigen Prozessen abreißt, reduzieren den Wert der Einführung am Ende stark. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass das Marktumfeld in 5 Jahren sehr anders aussehen kann, heute getroffene Infrastrukturentscheidungen, etwa für eine IT/OT-Architektur, jedoch für 20 Jahre und mehr Effekte haben. Die Ableitung einer sinnvollen Strategie zur Einführung von Industrie 4.0 sollte diese Trends bereits berücksichtigen, um ein Mitwachsen mit den Anforderungen zu erlauben.

Das INC Invention Center begleitet Unternehmen entlang des gesamten Transformationsprozesses. Weltweit haben unsere Experten eine Vielzahl von Unternehmen bei der Einführung von Industrie 4.0 begleitet, und Strategien für das Ausrollen der Konzepte von Piloten auf Werksverbünde erstellt. Unsere Erfahrung ist, dass der klare Fokus auf das Ziel der Gesamtstrategie zur Digitalisierung der Wertschöpfungskette wichtig ist, um den optimalen Nutzen aus der Einführung von Industrie 4.0 zu ziehen.